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25.02.2023

Wir schaffen es, erst recht zu lächeln!

Der Beginn des Krieges in der Ukraine jährt sich zum ersten Mal. Als Journalistikstudent und Theologie-Doktorand der KU schilderte Mykola Vytivskyi (31) vor einem Jahr unmittelbar erste Eindrücke aus seinem Heimatland. Dort absolvierte er zu diesem Zeitpunkt ein Praktikum beim Radiosender Radio Free Europe/Radio Liberty in Kiew. Seine Familie lebt im westlichen Teil des Landes. Wie hat sich die Situation seitdem für ihn und seine Angehörigen entwickelt? Was trägt die Menschen trotz allem durch die Zeit und mit welchen Perspektiven blicken sie in die Zukunft?

Mykola, welche Erwartung hattest Du vor einem Jahr – dass der Krieg so lange dauert oder die Kämpfe doch schnell wieder enden?
Es war damals sehr schwer, etwas vorherzusehen. Diejenigen, die es öffentlich versuchten, waren meist Militärexperten, die von einer Art Blitzkrieg Russlands mit baldigem Ende und einer Niederlage der Ukraine ausgingen. In den ersten Monaten haben sich die Menschen in der Ukraine – so seltsam es vielleicht klingen mag – deshalb zunächst gefreut, dass der Krieg eben nicht so schnell zugunsten von Russland zu Ende gegangen ist. Schließlich wuchs dann zunehmend die Hoffnung, dass die Ukraine das Blatt sogar wenden könne – und damit die Hoffnung auf ein Ende des Krieges.

Du lebst mit Deiner Frau in Deutschland, Deine Familie in der Ukraine. Wie präsent ist der Krieg für Dich? Oder tritt er gelegentlich durch alltägliche Themen in den Hintergrund? Der Krieg ist auf vielfältige Weise für mich präsent. Ich habe mich gleich zu Beginn als potenzieller Soldat beim Militär registrieren lassen, sodass ich bei Bedarf eingezogen werden kann. Zuvor war ich nie beim Militär. Zwar habe ich vor Ort selbst Angriffe erlebt, aber die Eindrücke belasten mich zum Glück nicht permanent. Aber auch wenn man wie ich im Ausland lebt, bekommt man den Krieg nicht aus dem Kopf, schließlich leben meine Familie und meine Freunde dort. Ein Schulkamerad kämpft an der Front, ich verfolge laufend seine Berichte. In der gesamten Ukraine fällt immer wieder der Strom aus, so dass man nicht selbstverständlich miteinander Kontakt aufnehmen kann, um zu erfahren, wie es der Familie geht. Zu Beginn des Krieges gab es viele Raketenangriffe auch im Westen der Ukraine, mittlerweile fühlt man sich dort wieder sicherer, so dass das Leben wieder einigermaßen zu einem Normalzustand zurückkehrt – sofern man im Krieg von einem Normalzustand reden kann. Einer der wenigen positiven Effekte ist, dass die Menschen in der Ukraine stärker zusammenrücken – sowohl Russischsprachige als auch Menschen, die Ukrainisch sprechen. Auch in dieser Hinsicht wird die Ukraine nach dem Krieg nicht mehr so sein wie zuvor.

Du willst Priester werden und gehörst dem Eichstätter Collegium Orientale an, in dem Priesteramtskandidaten unterschiedlicher Ostkirchen ausgebildet werden. Wie hat sich dort das Zusammenleben seit Kriegsbeginn verändert?
In den ersten Monaten des Kriegs standen vor allem Hilfsaktionen im Mittelpunkt. Heute beten wir täglich für die Ukraine. Als Zeichen dafür, wie präsent der Krieg im Leben des Collegiums ist, halten wir außerdem einmal wöchentlich ein Friedensgebet am Residenzplatz mit der Eichstätter Bevölkerung ab. Sie steht seit einem Jahr zu uns. Es ist gut zu wissen, dass wir nicht alleine sind! Denn es ist nicht selbstverständlich, so lange Unterstützung zu geben, ohne die Situation selbst erlebt zu haben.  Mit unserem Chor gestalten wir außerdem viele Veranstaltungen, die sich mit der Ukraine befassen.

Für Dich und Deine Familie gab es trotz allem auch schöne Erlebnisse in diesem Jahr wie etwa die Hochzeit von Dir und Deiner Frau Yuliia oder die Priesterweihe Deines Bruders. Wie hast Du das unter diesen Vorzeichen erlebt?
Es war tatsächlich ein Jahr der gemischten Gefühle. Auf der einen Seite ist man traurig und wütend, dass im 21. Jahrhundert noch so ein Krieg geschehen kann. Und in der ersten Zeit nach Beginn des Krieges hat man sich nicht getraut, Freude zu zeigen. Doch man hat zunehmend gespürt, dass nicht nur Mut, sondern auch Ausdauer gefragt ist – auch im privaten Leben. Deshalb ist es umso wichtiger, erst recht zu lächeln! Auch deshalb heiraten einige ukrainische Soldatinnen und Soldaten unmittelbar an der Front. Zwar konnten unsere Eltern zur Hochzeit nach Deutschland kommen, aber nicht die Großeltern, die bei uns aus der Tradition heraus eigentlich eine noch stärkere Rolle bei einer Hochzeit spielen. Mein Bruder und seine Frau erwarten ein Kind, das in wenigen Tagen zur Welt kommen wird. Menschen werden getötet und wir freuen uns zugleich über jedes neue Leben. Das ist der Kontrast, in dem wir existieren

Welche Stimmung herrscht unter den jungen Menschen in der Ukraine – und wie gestalten sie ihren Alltag?
Die Frage, welche Vorstellungen von Zukunft ein Mensch hat, umfasst in der Ukraine derzeit ein breites Spektrum und hängt von der persönlichen Situation ab. Für meinen Schulkameraden an der Front kann ich mir vorstellen, dass der heutige Abend schon Zukunft genug ist. Es gibt aber auch Menschen in anderen Lebensbereichen, bei denen gerade ganz besonders die langfristige Hoffnung und Ausdauer für eine bessere Zukunft gefragt sind. Wenn wir diese Hoffnung verlieren würden, gäbe es keinen Sinn, weiter zu kämpfen. Zur Ausdauer gehört auch, dass man den eigenen Pflichten nachgeht – sei es bei der Arbeit, in der Schule oder an der Uni. Und wenn die Sirenen heulen, muss man unterbrechen und geht danach wieder zurück. Und dann nach Hause, und morgen geht es wieder weiter. So ist es.

Wie ist die Lage an den Universitäten?
Es gibt viele Geflüchtete im Ausland, die ihre Kurse an den ukrainischen Universitäten online belegen und ihr Studium trotz allem absolvieren wollen. Das betrifft vor allem Studentinnen, weil Männer das Land nicht mehr verlassen dürfen. Studenten oder Promovenden konnten anfangs noch ein- und ausreisen, wenn sie außerhalb der Ukraine bereits einen Studien- oder Arbeitsplatz hatten. Heute müsste auch ich in der Ukraine bleiben, wenn ich etwa Verwandte besuche. Diese Regelung ist schwierig, aber notwendig. Es gibt nichts Normales im Krieg.

Wie nehmen die Menschen in der Ukraine die Gespräche auf internationaler Ebene rund um militärische Unterstützung und andere Hilfe wahr?
Es ist nachvollziehbar, dass es als Gegensatz in sich wirkt, vom Frieden zu sprechen und dabei von Panzern zu reden. Ich denke, die meisten Menschen in der Ukraine sind dankbar für die gesamte Hilfe, die man bekommen hat. Denn wir können nicht sicher sein, ob wir überhaupt soweit ohne Hilfe aus dem Ausland gekommen wären. Es geht um das Überleben eines Landes. Deshalb ist es normal, dass jede Diskussion um weitere Hilfe in der Ukraine als zu zögerlich empfunden wird, solange es auch um nur ein einzelnes Menschenleben geht, das man schützen könnte. Aber natürlich: Es ist nicht normal, mit Panzern wieder in den Normalzustand zurückkehren zu wollen. Und es ist noch weniger normal, wenn das als einzige Wahl bleibt. Was uns wehtut ist, wenn manche den Begriff „Frieden“ mit einem Ergebnis verbinden, in dem es keine Ukraine mehr gibt. In einer friedlichen Zeit braucht die Ukraine keine Panzer. Wir würden sie gerne gleich morgen zurückgeben und sie gegen die Menschen eintauschen, die wir verloren haben. Dafür müssen aber zunächst auch die russischen Panzer in ihre Heimat zurückkehren.

Wie schätzt Du die weitere Entwicklung ein?
Es gibt drei Szenarien: Einen Sieg Russlands, einen Erfolg der Ukraine oder einen eingefrorener Konflikt, der sich noch über Jahre hinzieht. Wir wollen, dass die vielen Opfer nicht umsonst waren. Und ein schwelender Konflikt würde Russland die Gelegenheit bieten, wieder Kräfte zu sammeln. Deshalb hoffen wir auf einen Sieg der Ukraine, doch das schafft das Land nicht allein. Ich hoffe auch, dass es für Russland eine bessere Zukunft geben wird. Denn die dortige Propaganda hat es geschafft, eine Mehrheit der Bevölkerung gegen jede Vernunft von den eigenen Kriegszielen zu überzeugen.

Wie fühlt es sich für Dich an, als Theologe mit Krieg konfrontiert zu sein und auch für das Kämpfen zu argumentieren?
Als Theologe muss man sich ganz oft mit Fragen auseinandersetzen, die nicht mit dem Guten zu tun haben. Man muss sich auch mit dem Bösen auseinandersetzen. Der Krieg an sich ist das Böse. Man muss ihn überwinden. Wenn Deine Frau und Deine Familie angegriffen werden, was machst Du? Schaust Du friedlich zu? Als Theologe und Christ ist die Antwort auf diese Frage natürlich nicht leicht, aber eindeutig: Man muss die eigene Familie und die eigenen Kinder verteidigen. Dieses Risiko muss man eingehen und diesen Preis muss man bezahlen. Und ich bin überzeugt: Man ist nicht mehr derselbe Mensch, wenn man töten musste. Ich habe noch nie eine Waffe in der Hand gehalten. Aber wenn es darauf ankommt, gibt es keine andere Wahl.

(zuerst veröffentlicht: www.ku.de)