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11.12.2015

„Deutschland soll sich für Versöhnung in Syrien und Irak einsetzen“

Die deutsche Regierung sollte sich stärker für die Versöhnung zwischen den verschiedenen Konfliktparteien in Syrien und im Irak engagieren.

„Deutschland soll sich für Versöhnung in Syrien und Irak einsetzen“

Interview mit Seiner Seligkeit Patriarch Ignatius Youssef III. Younan

Seine Seligkeit Patriarch Ignatius Youssef III. Younan, das Oberhaupt der Syrisch-katholischen Kirche von Antiochien, hat vom 21. bis 24. November die Diözese Eichstätt besucht. In diesem Rahmen führte Archimandrit Dr. Thomas Kremer, Vizerektor des Collegium Orientale Eichstätt, am 23. November 2015 das nachfolgende Interview mit dem Patriarchen.

Eure Seligkeit, man spricht vielfach vom Reichtum der christlichen Traditionen des Orients. Den Gläubigen in Deutschland fällt es oft schwer, die Besonderheiten der einzelnen Traditionen zu unterscheiden. Sie sind der Patriarch der Syrisch-katholischen Kirche von Antiochien. Könnten Sie einen Eindruck vom Reichtum der Tradition Ihrer Kirche geben?

Patriarch Younan: Wenn wir von der Syrisch-katholischen Kirche sprechen, sprechen wir vom syrischen Erbe des Patriarchats von Antiochien – ein reiches Erbe, das aber noch immer in vielem unentdeckt ist, da die Römisch-katholische Kirche stets den Kontakt mit den Kirchen der byzantinischen Tradition stärker gepflegt hat, mit denen sie ja auch bis 1054 verbunden war. Wir dagegen sind bereits seit dem 5. bzw. 6. Jh. von den großen Zentren der römischen und byzantinischen Kirche abgeschlagen. Wir lebten unter muslimischer Herrschaft und wir wurden dadurch in vielem gebremst, etwa in Fragen der liturgischen Erneuerung, der Ikonographie, und wir waren in gewisser Weise gettoisiert. Wir konnten kaum mehr tun, als das zu bewahren, was wir aus den ersten Zeiten des Christentums geerbt haben. Dazu zählen die Texte so bekannter Väter wie Ephräm dem Syrer und Jakob von Sarug und anderer, die in syrischer Sprache geschrieben haben und der west- wie der ostsyrischen Tradition angehören. Diese Kirchen wurden durch die soziokulturelle Situation ins Abseits gedrängt, da wir stets unter Bedrohungen gelebt haben und in die Berge oder die Wüste abgedrängt wurden. Immer wieder wurden unsere Kirchen und Klöster aufgrund der jeweiligen Situation aufgegeben und zerstört. Der Westen hat im Allgemeinen eine unzureichende Kenntnis unseres spirituell-liturgischen Erbes. Dieses ist vor allem für seine Einfachheit bekannt. Es gab nie die großen theologischen Entwürfe wie im Westen und in der byzantinischen Kirche, doch wir blieben stets den Ursprüngen eng verbunden. Heute beginnt die Gesamtkirche glücklicherweise, sich für das syrische Erbe zu interessieren. Als syrische Kirchen – dazu gehören die syrisch-katholische, die syrisch-orthodoxe, die maronitische, aber auch die chaldäische und assyrische Kirche sowie die syro-malabarische und syro-malankarische Tradition Indiens – besitzen wir ein reiches spirituell-liturgisches Erbe, dessen Kennzeichen stets die Einfachheit ist.

Jesus Christus selbst gesprochen hat. Hat die Verwendung und die Verwurzelung in der semitischen Tradition eine besondere Bedeutung für Ihre Kirche?

Patriarch Younan: Die syrische Sprache betrachten wir als einen großen Schatz. Uns ist es gelungen, sie zu bewahren trotz aller Hindernisse, die uns entgegengetreten sind. Wir haben sie in unserer Liturgie bewahrt. Aber leider kennen sie nicht mehr alle Gläubigen, abgesehen von denen, die in Gegenden wie dem Nordirak, dem Tur Abdin oder in der Gegend von Ma’alula lebten und leben, die bis heute einen aramäischen Dialekt sprechen. Leider konnten wir sie aufgrund der Umstände, die uns von den Regierungen auferlegt wurden, in den großen Städten als gesprochene Sprache nicht lebendig erhalten, wohin viele unserer Gläubigen aufgrund sozioökonomischer Gründe hinziehen mussten. Die Politik in Syrien, im Irak und in der Türkei, wo unsere Syrisch-katholische Kirche ihre Wurzeln hat, hat uns nicht gestattet, in unserer Sprache zu kommunizieren, so dass sie heute im Wesentlichen auf die Liturgie beschränkt ist und von Priestern und Mönchen beherrscht wird, die sie studieren. Leider sind wir Christen nicht mehr so sehr in unserer Sprache verwurzelt, so dass nur noch wenige Christen die Sprache Christi und der Gottesmutter sprechen. Anderen Religionen gelingt es besser, ihre Ursprungssprache zu bewahren, wenn wir an das Arabische und Hebräische denken. Vielleicht hatten wir die Vorstellung, dass die Universalkirche nicht an ein spezielles Gebiet und eine Sprache gebunden sei.

Kommen wir jetzt zur derzeitigen Lage. Können Sie uns beschreiben, wie sich heute die Situation der Gläubigen Ihrer Kirche angesichts der vielen aktuellen Probleme darstellt?

Patriarch Younan: Die Situation unserer Kirche als Gemeinschaft von Gläubigen zusammen mit ihrem Klerus ist derzeit sehr bewegt und steht vor der Gefahr einer regelrechten Auslöschung, des Verschwindens, denn die beiden Länder, in denen unsere Kirche seit Jahrhunderten ihre Wurzeln hat, Syrien und Irak, leiden unter einem brudermörderischen Krieg, einem konfessionellen Bürgerkrieg. Was wir erleben, ist ein äußerst gewalttätiger Krieg. Ein großer Teil der Infrastruktur ist zerstört, viele archäologische Monumente, Kirchen und Klöster. Unsere Kirche hat ebenso wie die syrisch-orthodoxe, die chaldäische und assyrische viele Beschädigungen hinnehmen müssen, vieles liegt in Ruinen. Die wesentliche Frage ist: Wie können wir unsere Gläubigen und Kleriker überzeugen, im Land unserer Vorfahren verwurzelt zu bleiben, sowohl in Syrien wie im Irak, und für die Zukunft eine hoffnungsvolle Vision zu entwickeln. In der Praxis versagt selbst diese optimistische Vision vielfach. So stehen wir vor der Tatsache, dass es einen verstärkten Exodus der Christen gibt, insbesondere seit dem vergangenen Jahr und der Entwurzelung von mehr als 140.000 Christen aus Mossul und der Ebene von Niniveh. Sie hoffen, zu ihren Dörfern und Ländereien zurückkehren zu können, während bis auf den heutigen Tag diese terroristischen Banden, die sich „Daesch“ oder „Islamischer Staat“ nennen, immer noch die Herrschaft über diejenigen Gebiete ausüben, wo die Christen in einer relativen Freiheit leben konnten. Ähnliches gilt auch für Dörfer in Syrien, etwa im Nordosten Syriens oder nordöstlich von Homs, wo ebenso das Überleben unserer Christen ernsthaft bedroht ist. So ist die Kirche immer wieder herausgefordert, auf die Bedürfnisse unserer Gläubigen und Gemeinden zu reagieren. Es geht nicht nur um die grundlegende humanitäre Versorgung der Menschen, sondern darum, wie man sie inspirieren kann, Zuversicht angesichts der Zukunft zu gewinnen.

Darf ich Sie angesichts der schwierigen Lage nach den ökumenischen Beziehungen unter den christlichen Kirchen fragen: Arbeiten die Kirchen der verschiedenen Konfessionen im Vorderen Orient zusammen, um die Probleme gemeinsam zu lösen und die christlichen Gemeinden zu retten?

Patriarch Younan: Wissen Sie, Papst Franziskus hat einen Satz geprägt, der sehr ausdrucksstark ist, wenn er davon spricht, dass unsere christliche Berufung und die Botschaft unseres Glaubens darin besteht, dass die Christen heute an der „Ökumene des Blutes“ teilhaben. Das heißt, dass im Vorderen Orient den Christen aller Kirchen, der orthodoxen, katholischen und protestantischen, diese barbarische, terroristische Bedrohung bewusst ist und alle Kirchen Märtyrer und Bekenner des Glaubens zu verzeichnen haben. Sie alle müssen Unterdrückung und Gefängnis ertragen. Was den geschwisterlichen Umgang miteinander anbelangt, hat dies die Kirchen einander näher gebracht. Die Kirchenführer werden nicht müde, sich zu versammeln, um diejenigen, die die politische Macht besitzen, zu ersuchen, ihre Politik zu ändern und den Frieden im Vorderen Orient zu fördern, insbesondere um den Christen zu helfen, fest in ihren Heimatländern verwurzelt zu bleiben. Was unsere beiden Kirchen syrischer Tradition anbelangt, die orthodoxe und die katholische, kann ich sagen, dass wir in bestem Kontakt stehen. Wir hatten noch nie eine Zeit eines solch wahren ökumenischen Kontaktes zwischen unseren Kirchen. Wir, Orthodoxe wie Katholiken, betrachten uns als eine syrische Kirche mit einem orthodoxen und einem katholischen Zweig. Mit der Wahl des neuen syrisch-orthodoxen Patriarchen Mor Ignatius Ephräm II. Karim haben sich diese Kontakte sowohl in der Qualität wie in der Quantität intensiviert. Wir treffen uns oft, sprechen regelmäßig miteinander und beraten uns gegenseitig in der Frage, wie wir dieser entsetzlichen Situation unserer syrischen Kirchen begegnen sollen. Mehrfach haben wir im Irak und in Syrien gemeinsam Flüchtlinge und ihre Helfer besucht, um sie mit Zuversicht und Hoffnung zu erfüllen. Dabei denken wir auch beständig darüber nach, wie sich unsere Kirchen noch mehr als in der Vergangenheit näher kommen können, auch um die Pastoral unserer beiden Kirchen sowohl im Vorderen Orient wie auch in der Diaspora stärker zu koordinieren.

Wenn ich Sie richtig verstanden habe, möchten Sie in guter Zusammenarbeit mit der Syrisch-orthodoxen Kirche den Gemeinden in ihrer Heimat bei ihrem Überlebenskampf helfen, aber ebenso auch diejenigen als Gemeinden sammeln, die in die Diaspora gegangen sind.

Patriarch Younan: Auch hier zeigt sich, dass die Gläubigen uns oft in der Frage einer wahren Ökumene voraus sind. Deshalb hindern wir unsere Gläubigen in keiner Weise daran, wenn sie ihre christliche Berufung in Gemeinschaft mit der Syrisch-orthodoxen Kirche leben möchten, da wo wir keine kirchlichen Strukturen besitzen. Wir sind davon überzeugt, dass unsere Trennung rein nominal gewesen ist und nichts mit der Substanz unseres christlichen Glaubens zu tun hat. Wir gehen sogar so weit, gemeinsam an der Eucharistie teilzunehmen. Ich nehme keinerlei Anstoß daran, wenn man die Kommunion in einer syrisch-orthodoxen Kirche empfängt, um unsere Einheit im Glauben und in den Sakramenten zu bezeugen. Ich selbst kann diese Position nicht teilen, dass man zunächst die volle Kirchengemeinschaft verwirklicht haben müsse, um die Kommunion teilen zu können. Wenn wir davon überzeugt sind, dass in unseren beiden Liturgien die eine wahre Eucharistie gefeiert wird, warum sollten wir uns dessen enthalten, die Kommunion in dieser selben Liturgie zu empfangen, in der die eucharistische Gegenwart des Herrn wahrhaftig ist?! Ich habe es selbst schon praktiziert, auch einige Bischöfe, sicher nicht wenige Priester und wir empfinden kein Problem dabei. Wir sind die einzigen Schwesterkirchen, die diese Überzeugung teilen, dass uns nichts wirklich Substantielles trennt außer den historischen Umständen, die leider zur Trennung geführt haben, als sich ein Teil der Orthodoxen mit dem Heiligen Stuhl von Rom wiedervereinigt hat. Wir sind an den Punkt gekommen, das Vergangene zu überwinden. Wir bleiben nicht in der Vergangenheit verhaftet, sondern müssen in die Zukunft schauen, da wir alle vor die Herausforderung gestellt sind, zu überleben. Das fordert unsere Aufmerksamkeit, und dem geben wir die Priorität.

Ich danke Ihnen von Herzen für diese große ökumenische Vision! Mit Ihrer Offenheit können Sie anderen Patriarchen und Bischöfen ein wunderbares Beispiel geben.

Ich möchte nun zu Frage einer möglichen Unterstützung kommen. Sie sind nach Deutschland gekommen, in ein Land, das in verschiedener Hinsicht die Möglichkeit besitzt, womöglich auch Ihrer Kirche zu helfen. Ich denke insbesondere an die Position der deutschen Regierung. Vielleicht können Sie etwas dazu sagen, welche Unterstützung Sie sich wünschen.

Patriarch Younan: Was die deutsche Regierung anbelangt, so wünschen wir uns, dass sie sich wesentlich stärker einbringt und engagiert, um die verschiedenen Konfliktparteien miteinander zu versöhnen, sowohl in Syrien wie im Irak. Die Tatsache, dass Deutschland Abertausende von syrischen Flüchtlingen aufgenommen hat, ist eine schöne Geste von Freundschaft, Geschwisterlichkeit und Gastfreundschaft. Aus humanitärer Sicht ist das sehr lobenswert. Wir wünschen uns, dass Deutschland noch einen Schritt weiter geht, um die wahren Ursachen für diesen massiven Exodus von Hunderttausenden Syrern zu ergründen.

Welches sind Ihrer Meinung nach die Gründe dafür?

Patriarch Younan: Die westlichen Länder haben die Uneinigkeit und die Konflikte geschürt und nicht geholfen, die Konfliktparteien zu versöhnen und im Dialog eine demokratische Lösung zu finden und sie auf das Ideal der Menschenrechte und die wahren Ideale einer echten Demokratie zu gründen. Wir wünschen uns, dass die deutsche Regierung sich nicht darauf beschränkt, Flüchtlinge aufzunehmen, sondern dass sie sich mit allen Beteiligten guten Willens zusammentut, um die Konfliktparteien zu versöhnen. Die humanitären Hilfen werden in höchstem Maße geschätzt, da sie auf die Bedürfnisse der leidenden Menschen, derer, die alles verloren haben, antworten und auf die Hilfe ihrer Brüder und Schwestern in Deutschland angewiesen sind.

Erlauben Sie mir noch, den Wunsch zum Ausdruck zu bringen, dass die westeuropäischen Länder sich noch stärker darin engagieren, den Ländern des Vorderen Orients zu helfen, eine stabile Situation in Frieden und Wohlstand wieder zu erlangen, insbesondere indem der gegenseitige Respekt wiederhergestellt wird. Wenn Deutschland und Europa etwas zu sagen hat, sollten sie nicht nur die eigenen materiellen Interessen verfolgen und dabei die Prinzipien und Werte vergessen, auf denen Europa gegründet worden ist. Ich wünsche mir, dass sie verstehen, dass ein Land, das man bezichtigen kann, eine Diktatur zu sein, immer noch viel besser ist als ein Land, das einem religiösen Totalitarismus unterliegt, d. h. dass es über alle Maßen schlecht ist, wenn die Religion in das private Leben des Einzelnen und in das öffentliche der ganzen Gesellschaft eingreift. Wenn man eine Wahl zu treffen hat, muss man die Regime wählen, die eher laizistisch sind und die Freiheit den Minderheiten und unter ihnen eben auch den Christen gewährleisten. Das, was ich mir wünsche, ist, dass Europa wahrhaft Europa ist und als Gemeinschaft von vielen Staaten, die sehr viel im internationalen Kontext zu sagen haben, seine Entscheidungen trifft und sich nicht vor allem von den Amerikanern und den Russen ihre Lösungen diktieren lässt.

Eure Seligkeit, ich danke Ihnen von ganzem Herzen für ihre klaren Worte und für dieses ausführliche Gespräch!

Erlauben Sie mir zu guter Letzt noch die Frage zu ergänzen, in welcher Weise die Diözese Eichstätt und insbesondere das Collegium Orientale seinen Beitrag leisten kann.

Ich bin dem Collegium Orientale und seinen Verantwortlichen sehr dankbar, dass ich so brüderlich und mit so großer Hingabe empfangen worden bin. Ich glaube, dass das Collegium Orientale in Eichstätt eine besondere Berufung besitzt, und ich hoffe, dass es sowohl in Deutschland wie auch in Europa eine immer größere Bekanntheit erlangt, damit wirklich in die Tat umgesetzt werden kann, was wir mit dem Worten des hl. Papstes Johannes Paul II. bekennen, dass die Kirche mit zwei Lungenflügeln atmet, dem des Ostens und dem des Westens. Und das ist wahr. Es gibt einen so großen Reichtum in beiden Teilen der Kirche, in den beiden Traditionen. Es berührt mich sehr, dass das Collegium Orientale sowohl Seminaristen wie auch Priester, die postgraduierte Studien betreiben, aufnimmt und sich dabei nicht auf die Kirchen byzantinischer Tradition beschränkt, sondern eben auch offen ist für die Kirchen syrischer Tradition. Wir freuen uns, dass im kommenden Jahr einer unserer Priester mit seinem Promotionsstudium im Collegium Orientale beginnen wird, und ich hoffe, dass wir weitere Kandidaten entsenden können, die ihre Studien der syrischen Tradition in diesem Collegium vertiefen möchten.

Vielen Dank, unsere Türen sind stets geöffnet – für Sie, für Ihre Priester und Seminaristen und für die Gläubigen Ihrer Kirche! Wir vom Collegium Orientalewünschen Ihnen die Kraft, Ihren Gläubigen auf der ganzen Welt beizustehen. Wir fühlen uns den Kirchen der syrischen Tradition mit ihrem spirituellen Reichtum aufs Engste verbunden und wünschen Ihnen und Ihrer Kirche Gottes reichen Beistand für eine gesegnete Zukunft!