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02.11.2016

Zum Jahr der Barmherzigkeit

Interview mit dem H.H. Bischof Dr. Volodymyr Hrutsa, griechisch-katholischer Weihbischof von Lviv (Lemberg) / Ukraine; das Interview führte Rektor Oleksandr Petrynko.

 

 

Petrynko: Lieber Herr Weihbischof Volodymyr, in weniger als einem Monat geht das außerordentliche heilige Jahr der Barmherzigkeit, ausgerufen von Papst Franziskus vor knapp einem Jahr, zu Ende. Wie haben Sie dieses Jahr erlebt, besonders als neugeweihter Bischof?

Bischof: Auf das Jahr der Barmherzigkeit muss man vieldimensional schauen. Ich bin vor allem ein Mensch sowie ein Christ und dann erst Bischof. Ich habe dieses Jahr vor allem als Christ erlebt. Die Kirche hat, kann man sagen, ihre mütterliche Seite herausgestellt und, wie Papst Franziskus dies immer wieder betont hat, die Türen ihres Hauses für ihre Kinder aufgetan. In diesem Haus wartet auf die Kinder voll Sehnsucht der barmherzige Vater. Denn das Motto dieses Jahres heißt ja: „Barmherzig wie der Vater“. Was die Kinder angeht, so sind sie eingeladen, diese geöffneten Türen wahrzunehmen und einzutreten. Was das Jahr der Barmherzigkeit impliziert ist, dass der Mensch ein soziales Wesen ist. Der Mensch soll fähig sein, Liebe anzunehmen und sie zu schenken, die Barmherzigkeit zu empfangen und Barmherzigkeit weiterzugeben. Das soll im Jahr der Barmherzigkeit besonders sichtbar werden. Dabei ist es aber nicht so zu verstehen, dass wir dieses Jahr mit diesem bestimmten Thema „absolvieren“ und dann auf das nächste warten, um zu sehen, was es an geistlichen Impulsen mit sich bringt. Sich auf die Barmherzigkeit zu besinnen, heißt die eigentliche Berufung, sozial und barmherzig zu sein, neu zu entdecken, darüber nachzudenken und dementsprechend handeln. Barmherzigsein gilt immer und in jedem Jahr.

Petrynko: An was denken Sie als geistlicher Mensch und Christ, wenn Sie von der Barmherzigkeit Gottes hören? Oder welche Rolle spielte die Barmherzigkeit Gottes auf Ihren Pfarrmissionen als Redemptorist?

Bischof: Die Redemptoristen sind eine internationale Gemeinschaft. Wir sind auch in Österreich und in Deutschland tätig. Während meines Studiums hier im deutschsprachigen Raum habe ich oft gehört, dass die Redemptoristen früher als die „Höllenprediger“ galten. Sie haben nämlich sehr furchterregend über die Hölle gepredigt. Man muss aber den gesamten Zusammenhang sehen: Sie haben das getan, nicht um den Menschen Angst einzujagen, sondern um die Menschen zur Bekehrung anzustoßen. Und sie benützten die damaligen pädagogischen Methoden, die den heutigen womöglich zuwiderlaufen. Das eigentliche Ziel war immer, auch zu jener Zeit, dass die Menschen sich auf die Gottessuche begeben, ihm näher kommen und seine große Liebe zu ihnen erfahren. Man kann das natürlich nicht mit Zwang oder mit Angst machen. Selbst der heilige Alfons, Ordensgründer der Redemptoristen, hat zu seiner Zeit bemerkt: Eine Bekehrung, die von Angst geprägt ist, kann nicht standhaft sein; eine solche Bekehrung ist sehr zerbrechlich. Das Ziel einer jeden Redemptoristenmission war und bleibt jedoch die Umkehr des Menschen, das heißt ihr Sinneswandel; unter anderem durch das Sakrament der Versöhnung. Die Folge davon soll die Vereinigung mit Gott sein. Danach braucht keiner Angst zu haben, dass es ihm mit Gott schlecht gehen wird, wenn er mit Gott verbunden ist.

Als Unterstützung für unsere Pfarrmissionen wurde Redemptoristen die Ikone der Gottesmutter der immerwährenden Hilfe geschenkt. Sie wurde unserem Orden vom Heiligen Stuhl vor 150 Jahren anvertraut. Sie gilt ja als Ikone der Liebe und ist als solche in der ganzen Welt bekannt. Die Redemptoristen haben sie und ihre Idee aktiv verbreitet und sich für die Menschen eingesetzt, um ihnen Trost zu spenden und ihr Vertrauen auf die Barmherzigkeit Gottes zu stärken. Bei den Worten über die Barmherzigkeit denke ich in erster Linie an die immerwährende Hilfsbereitschaft Gottes zu den Menschen, die sie, vermittelt durch die Heiligen im Himmel und hier auf der Erde, bewusst oder unbewusst erfahren und von ihr leben.

Petrynko: Kann ein gerechter Gott zugleich barmherzig sein? Geht das zusammen? Kann ich es mir irgendwie vorstellen oder beides in einem denken?

Bischof: Es geht um zwei Begriffe „gerecht“ und „barmherzig“, die auf den ersten Blick unverträglich erscheinen. Ich würde diese Begriffe noch mit einem dritten ergänzen oder sie beide damit koppeln, nämlich "Gottes Pädagogik". Wenn die Eltern dem Kind etwas verbieten oder es unterweisen, bedeutet dies fast nie, dass sie das Kind bestrafen wollen. Sie kümmern sich um ihr Kind und sind dabei zugleich streng oder gerecht und barmherzig. Die Eltern können die Folgen von bestimmten Entwicklungen und Ereignissen oder einfach Kinderwünschen aus ihrer Erfahrung besser einschätzen. In den Augen des Kindes kann dies unbarmherzig erscheinen. Längerfristig und pädagogisch gedacht, erscheint eine kindesgemäße und –gerechte Strenge als barmherzig.

Gott ist gerecht, und zwar so, dass er zugleich immer barmherzig bleibt. Er ist keinesfalls rach- oder strafsüchtig. Für mich persönlich erkläre ich die Sache folgendermaßen. Wenn Gott mich bestrafen würde, geht es ihm dann besser? Nein. Geht es dann mir besser? Auch nicht. Keiner profitiert davon. Das ist nicht nur ein Spiel mit Begriffen. Ich sehe darin eine kluge Pädagogik Gottes mit uns Menschen. Natürlich ist es nicht so, dass Barmherzigkeit ein billiges Produkt ist, das man jederzeit und jede Menge davon fast kostenlos bekommt, nach dem Verständnis: Ich habe etwas Schlechtes getan, aber Gott ist barmherzig und vergibt mir alles, so dass ich auch weiterhin so weitermachen und bleiben darf. Nein, alles, was wir schlecht sagen und tun, hat seine Folgen, die wir spüren und sie auch tragen müssen. Jede Verletzung und Wunde hinterlässt eine Narbe. Eine geheilte Wunde deutet auf Gottes Barmherzigkeit hin und eine Narbe als Folge davon auf seine Gerechtigkeit, wenn ich das so vereinfacht sagen darf.

Petrynko: Gibt es in der ostkirchlichen Spiritualität einen besonderen Zugang zur Barmherzigkeit Gottes, etwas, was sie auf eine besondere Weise beleuchtet?

Bischof: Ich muss Ihnen etwas gestehen: Wenn ich in der Muttersprache die Liturgie bete, schaffe ich es nicht immer, mich in die Texte zu vertiefen. Während meines Aufenthaltes in diesen Tagen in Eichstätt, wenn wir jetzt die mir bekannte Liturgie auf Deutsch beten, ist mir der Sinn auf Ukrainisch an mehreren Stellen neu aufgegangen. Denn ich lese und singe jetzt jedes Wort sehr genau und sehr bewusst. Hier öffnet sich auch wunderbar die Wirklichkeit, die hinter den Wörtern steht und die ich nicht automatisch an mir vorbeiklingen lasse. So auch zum Thema Barmherzigkeit. Indem ich mich auf die deutschen Übersetzungen der einzelnen Gebete und Lieder konzentriere, stelle ich fest, es spricht ja alles von der unbegrenzten Barmherzigkeit Gottes zu uns Menschen.

Sehr konzentriert ist die Barmherzigkeit Gottes in der ostkirchlichen Tradition im sogenannten Jesusgebet: „Herr Jesus Christus, Sohn Gottes, erbarme Dich meiner, des Sünders“. Dies ist ein wunderschönes sowohl gemeinschaftliches als auch persönliches Gebet. Dieses Gebet ist inhaltlich durch und durch von der Barmherzigkeit Gottes geprägt. Durch dieses Gebet lässt es sich hervorragend über die Barmherzigkeit Gottes nachsinnen, wenn man allein die einzelnen Wörter dieses kurzen Stoßgebetes meditiert. Das ständige Wiederholen des Gebetes bringt es mit sich, dass wir empfänglich werden für das Geschenk der Barmherzigkeit.

An Bedeutung ist in diesem Zusammenhang sicherlich nicht zu übersehen das Sakrament der Buße, nicht nur im Osten, sondern auch im Westen. In diesem Sakrament begegnet uns die Barmherzigkeit auf eine sehr intime, persönliche und direkte Weise. Sie wird uns durch die Stimme des Priesters vernehmlich und zugänglich zugesprochen. Die Barmherzigkeit und hier ist sie mit der Vergebung der Sünden gleichzusetzen, ist das erste und wichtigste Geschenk des auferstandenen Christus an die Jünger: Friede sei mit euch! … Empfangt den Heiligen Geist! … Wem ihr die Sünden vergebt, dem sind sie vergeben".

Petrynko: Können Sie sich aus Ihrem priesterlichen Wirken als Mönchspriester und Bischof an ein Beispiel erinnern, wo Sie die Barmherzigkeit Gottes deutlich verspürten oder unerwartet erlebten?

Bischof: Es ist schwierig sehr konkret darauf zu antworten. Sicherlich habe ich das öfter erlebt. Die Barmherzigkeit Gottes begleitet mich aber ständig und jeden Tag. Es kommt darauf an, was man darunter versteht. Wenn jemand behaupten würde, die Barmherzigkeit Gottes ist nicht beständig, dann versteht er auch nicht, was sie bedeutet. Das müssen nicht unbedingt große Wunder sein. Die Barmherzigkeit Gottes zeigt sich auch und vor allem in kleinen unscheinbaren Dingen, zum Beispiel, dass ich heute in der Früh aufgestanden bin. Als ich noch in Innsbruck studierte, habe ich an einem Morgen folgenden Gedanken gehabt, der mir dann immer wieder kam: Gegenüber unserem Kloster steht ein großes Krankenhaus, das ich vom Fenster meines Hauses jeden Tag sehen konnte. Damals in der Früh und danach sehr oft schaute ich in der Richtung der Klinik und ich sagte mir, wie viele von den Patienten heute nicht mehr aufgestanden sind, wie viele haben diese Nacht nicht überlebt. Und ich bin noch da. Gott hat sich meiner erbarmt. Das ist nicht selbstverständlich, dass meine Beine mich heute noch tragen. Ich stehe da, denke darüber nach, Gott war wieder barmherzig mit mir, ich lebe weiter und er gibt mir immer wieder eine Chance. Das ist für mich beispielsweise ein konkretes Erlebnis der Barmherzigkeit Gottes.

Auch im Sakrament der Beichte, die als geistliche Therapie verstanden wird, erlebe ich das sehr oft, wie die Barmherzigkeit Gottes bei den Menschen am Werk ist und wie erleichternd sie wirkt. Ich erlebe das natürlich auf zweifache Weise, als Beichtvater und auch als Beichtender. Ich kann sagen, dass es die ständige Erfahrung der Barmherzigkeit Gottes ist, die mich durch das Leben trägt. Insofern war das Jahr der Barmherzigkeit ein Impuls dahingehend, in uns diese Tatsache wieder bewusster zu machen und sie in Erinnerung zu rufen. Dank der Barmherzigkeit Gottes leben und bewegen wir uns von Tag zu Tag.

Petrynko: Als Bischof, der im heiligen Jahr der Barmherzigkeit zu diesem Dienst ernannt und geweiht worden ist, fühlen Sie sich dieser Eigenschaft oder Tugend besonders verbunden? Wird sie vielleicht zum Motto Ihres bischöflichen Wirkens?

Bischof: Ja, da haben Sie recht. Dieses Jahr der Barmherzigkeit, hat mich dazu inspiriert, dass mein Wappenspruch heißt „Barmherzigkeit und Freude“. Diese zwei Begriffe stehen mir immer vor Augen und begleiten mich und mein Wirken. Ich hoffe, dass sie mich auch weiterhin begleiten werden. Ich brauche selber sehr viel Barmherzigkeit Gottes, um sie den Menschen weitergeben zu können.

Herzlichen Dank!

(zuerst veröffentlicht auf: weitblick.bistum-eichstaett.de)